ICH BIN ZU SIEBZIG PROZENT KATHOLISCH
ICH HABE EINE HOHE TOLERANZGRENZE
ICH MAG DAS THEATER, TIERE UND SINFONISCHE MUSIK
ICH BIN DIE ALLEINERZIEHENDE MUTTER MEINER
SINGENDEN ARMEE
|Ivana Sajko - Europa|
Europa feiert bevor der Rest erwacht. Arbeitslose feiern anstatt zum Arbeitsamt zu gehen; Studenten sind dabei, deren Nacht noch nicht vorüber ist; Künstler, die natürlich überall dabei sein müssen; Asylanten ohne Unterkunft; Prostituierte, die noch auf einen letzten GinTonic gehen; zufällig Anwesende; Adabeis; Europa. Der Rausch stiftet die Identität. Europa als funktionierender Körper, als perfekt scheinende Gesellschaft wird entlarvt. Im Detail liegt das Verborgene. Bei God´s Entertainments Eröffnungsfeier mit Europa ist jeder willkommen - im Gegensatz zur EU.
Jegliche Anfangssituation löst sich auf – die Nacht und mit ihr die eigene persönliche Identität wird wie in Antonionis „Blow Up“ solange deformiert, verzerrt, vergrößert, bis sich jeder in seinem Ausschnitt selbst entdeckt. Die Masken fallen, Europa wird persönlich, Europa umarmt dich plötzlich, wird dein OneNightStand, lässt dich links liegen, dein letzter Rausch, dein letztes Glas vor dem Taxi in die Wirklichkeit. Jeder wird zur Voice of Europe - jede vertretene Stimme kommt aus einer anderen Ecke, wie in der Wirklichkeit, von links und rechts. 5 Minuten aus allen sozialen Lagern – aus allen Ecken des Raums. Sajkos Text dient als Vorlage. Ein halbes Jahr EU-Vorsitz in der Kurzversion!
Europe has become an obsession to you
Lars von Trier: Element of Crime
Bevor Europa ein politisches Wesen wurde, war sie eine mythische Kreatur. Nun sind wir Zeugen einer Umkehrentwicklung, in der sie eine Umwandlung von der politischen Wirklichkeit hin zu einem erneuerten Mythos vollzieht. Obwohl es wie eine Art Rückschritt aussieht, ist es eigentlich – wie in jeder richtigen Tragödie – ein Wiedererstarken der bestehenden sozialen Ordnung, ihrer ausgerufenen Werte und ihrer Hierarchien.
Ivana Sajkos Text „Europa“ als Vorwand nehmend, hinterfragt diese Performance die Rolle des Theaters als ein Raum, der traditionell – mit sehr wenigen Ausnahmen – diesem Wiedererstarken dient. Sein Hauptaugenmerk liegt darin, wie man eine Aufhebung der politischen Praxis, die die nicht-theatrale Wirklichkeit regiert, erschafft, während sie zur gleichen Zeit deren überpolitisierten Diskurs benutzt. Sie dreht sich um Europa als eine Art Körper ohne Organe, ihrer vollkommenen Flachheit und fehlenden Tiefe bewusst. Sogar wenn sie versucht, die Geschichte ihrer Abstammung und ihres Funktionierens in den veränderten sozio-ökonomischen Umständen(wieder) zu erzählen, so wie in Sajkos Text, bringt sie nur das beruhigende Versprechen hervor, dass der Krieg, den sie führt, außerhalb ihrer Grenzen bleiben wird und dass ihre einigende Kraft nicht schwinden wird. Und das ist ihr Alles und Nichts.
Diese Performance kennzeichnet Europa als dialektische Dystopie-/ Utopie-Bewegung von der rauen politischen Wirklichkeit mit ihren maßgebenden Begriffen wie Unsicherheit, soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, freie Marktwirtschaft usw., bis hin zu den neuen Mythologien und ihren friedensstiftenden Möglichkeiten. In dieser Bewegung gefangen, lebt eine große Zahl an Einwohnern mit dieser Spannung.
Die Performance verbindet Sajkos Text mit Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“, und zwar die berühmte Szene in der der Vorgang der Fotovergrößerung gezeigt wird. Die Struktur dieser Szene scheint anwendbar im Kontext der Enthüllung des verfassungsmäßigen Verbrechens/ Opfers für die europäische Gesellschaft. Es beginnt wie eine Art Landschafts-Stück und führt durch die nachfolgenden Erweiterungen. Es scheint Baudrillards „Perfect Crime“ zu enthüllen, aber zugleich verliert es einen größeren Zusammenhang. Angesichts des verfassungsmäßigen Verbrechens/ Opfers schließlich ist man nicht imstande, seine Verfassungsgewalt zu enthüllen. Ohne ihre Umgebung wirkt sie wie eine reine ausführbare Kraft. *
* Da muss doch noch mehr sein. Alles, was theoretisch möglich ist, passiert auch irgendwann. GE ahnt, dass Fassade (sich als quasi radikale und seltene Wiener Theatergruppe zeigt) nicht alles sein kann. Mit ihren Mitteln will GE die Tiefe hinter der – bezüglich des Falls in oben genannten Film – (un)exponierten Wirklichkeit Europas entdecken. Wie im Film versucht GE das vermeintliche Tatfoto Europas wieder und wieder zu vergrößern - solange bis ihr Tun ein Kunstwerk produziert: wenn man ein Foto nur stark genug vergrößert, kann man in dem Ausschnitt auch alles sehen, was man darin sehen möchte. Es kommt nur auf die Auflösung an. GE verweist auf Antonionis Hochauflösung, sodass sich schließlich parallel mit dem Rausch-Zustand Europas alles wie im Film auflöst. Mit jeder Vergrößerung, mit jedem blow up, wird das Gezeigte mysteriöser und verworrener. Diese prozesshafte Untersuchung bzw. Vergrößerung des Themas ist insofern aktuell, als sich Problematik der Entwicklung und Identität Europas auflöst, oder umgekehrt - solange bis die Antonionis Frage: Wer hat wen umgebracht und warum? beantwortet wird. Obwohl es unklar ist und auch so bleibt, darf GE ein vergrößertes, verschwommenes Schwarzweißfoto des Europaentwicklungsprozesses, der Europaintegrationspolitik als Kunstwerk auffassen. Offen bleibt nur noch: Was ist relevant? Was authentisch? Gibt es in einem medialisierten Europa überhaupt noch Authentizität?
Europa als (Rausch-) Zustand: Der europäische Körper existiert nur als Idee, muß also Metapher bleiben. Während die EU fleissig an Richtlinien und gemeinsamen Märkten arbeitet, bleibt es bei der oberflächlichen Behauptung der so genannten Leitkultur, aber es kränkelt massiv an kulturellen Identifikationsangeboten, ohne dass Europa zu einer Metapher für breiigen Konsens wird. Der Rausch der europäischen Kulturen und deren Verantwortung für Europa hängen eng zusammen, ungeachtet dessen, dass ersterer oftmals als Ausrede für einen Mangel an zweiterer verwendet wird. Viele Euros fließen deshalb in identitätsstiftende be-rauschende Feste. Fuckin´good old Europe: God´s Entertainment lässt auf die ehemalige phönizische Königstochter keinen wilden Stier los. Dass beim Nachwuchs bleibende Schäden hinterlassen werden können, steht ausser Frage. Formal orientieren sich GE an Tableaux Vivants: Sie greifen Bilder und Metaphern europäischer Kultur auf (Vgl. Courbet: Der Ursprung der Welt; Tanja Ostojic: Ohne Titel) und transformieren sie auf die Theaterbühne. So bildet sich ein zwischen Performance und Statik angesiedeltes ideales Medium, das sich und seine Geschichte reflektiert. Im rasanten medialen Rauschen lenken sie die Blicke auf Gesten, Körper, Leerstellen. Sie zeigen Europa exemplarisch als handlungsbedürtig, gerade weil es stillsteht. Der gewohnt partizipatorische Anteil ihrer Arbeiten liegt diesmal in dem Reiz, dass die Leute zum einen den europäischen Rauschzustand schon länger praktizieren und sich in diesem Tableaux dazugesellen können: Europa als Gesellschaftsspiel! Sei dabei!
In Koproduktion mit Freischimmerfestivals: Sophiensaele Berlin, Theaterhaus
Gessnerallee Zürich, brut wien, Forum Freies Theater Düsseldorf, Kampnagel Hamburg
8 Stunden Performance | Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien - MA7